Der Morgen danach wirkt seltsam still in Gießens Weststadt. Wo gestern noch tausende Menschen demonstrierten, kehrt nun der Alltag zurück. «Es ist wie ein emotionaler Kater«, flüstert mir Kioskbesitzerin Maria beim morgendlichen Kaffee zu. Die Anti-AfD-Demonstration hat Spuren hinterlassen – nicht nur auf dem Asphalt, sondern auch in den Köpfen der Anwohner.
«Demokratie lebt vom Protest«, meint Sozialarbeiter Thomas Becker, der seit 30 Jahren im Viertel arbeitet. «Aber die Lautstärke gestern hat manche ältere Bewohner verängstigt.» Tatsächlich sind die Reaktionen gemischt. Während jüngere Anwohner die Demo mehrheitlich befürworten, sorgen sich ältere um ihr Sicherheitsgefühl. Bei meinem Spaziergang durch die Gartenfeldstraße begegne ich beiden Perspektiven. Die Studentin Lea schwärmt von «gelebter Demokratie«, der Rentner Herr Müller spricht von «unnötigem Krawall«.
Als ich gestern selbst durch die Menge lief, fiel mir die Vielfalt der Demonstrierenden auf. Familien mit Kindern neben politischen Aktivisten. Zwischen Sprechchören und Transparenten entstand ein seltsames Gemeinschaftsgefühl. Der Politikwissenschaftler Prof. Schneider von der JLU Gießen erklärt: «Solche Ereignisse polarisieren, aber sie zwingen uns auch, Position zu beziehen.«
Die Weststadt steht exemplarisch für viele deutsche Städte. Hier verdichtet sich die gesellschaftliche Debatte auf engstem Raum. Während die Spuren der Demo langsam verschwinden, bleiben die Diskussionen. Der Riss durch die Gesellschaft wird sichtbarer – und vielleicht ist genau diese Sichtbarkeit der erste Schritt zu einem ehrlicheren Dialog.