In einem ruhigen Wohnviertel in Hamburg-Nord packt das Ehepaar Schmidt ihre Kartons. Nach 44 Jahren müssen Gisela (72) und Herbert Schmidt (75) ihre Dreizimmerwohnung räumen. Der Grund: Eigenbedarfskündigung. Für das Rentnerehepaar bedeutet dies nicht nur den Verlust ihres langjährigen Zuhauses, sondern auch eine erhebliche emotionale und finanzielle Belastung.
«Wir haben hier unsere Kinder großgezogen, Weihnachten gefeiert und Geburtstage. In diesen Wänden steckt unser Leben», sagt Gisela Schmidt mit Tränen in den Augen. Die pensionierte Lehrerin zeigt auf die Wand im Wohnzimmer, wo noch die Wachstumsmarkierungen ihrer Kinder zu sehen sind.
Die Eigenbedarfskündigung erreichte die Schmidts vor acht Monaten. Der neue Eigentümer der Wohnung, der das Mehrfamilienhaus vor zwei Jahren erworben hatte, möchte die Wohnung für seinen Sohn nutzen, der zum Studium nach Hamburg zieht. Nach anfänglichem Schock folgte für die Schmidts ein zermürbender Kampf.
«Wir haben versucht, rechtlich dagegen vorzugehen», erklärt Herbert Schmidt. «Aber letztendlich hat das Gericht entschieden, dass der Eigenbedarf berechtigt ist, auch wenn wir seit Jahrzehnten hier wohnen.» Die lange Mietdauer schützt in Deutschland nicht automatisch vor Eigenbedarfskündigungen, wie viele fälschlicherweise annehmen.
Laut Rechtsanwältin Claudia Meier, Spezialistin für Mietrecht in Hamburg, sind solche Fälle keine Seltenheit: «Trotz der oft großen Härte für langjährige Mieter ist Eigenbedarf ein legitimer Kündigungsgrund. Allerdings prüfen Gerichte bei älteren Mietern und langer Wohndauer besonders streng, ob eine Härtefallregelung greifen könnte.»
Die Suche nach einer neuen Wohnung gestaltete sich für das Ehepaar als Odyssee durch den angespannten Hamburger Wohnungsmarkt. «Wir haben über 60 Wohnungen besichtigt», berichtet Gisela Schmidt. «Die Mieten sind heute drei- bis viermal so hoch wie das, was wir bisher gezahlt haben. Und bei vielen Vermietern spürt man sofort die Skepsis gegenüber Rentnern.»
Die durchschnittliche Kaltmiete in Hamburg liegt mittlerweile bei 14 Euro pro Quadratmeter – für viele Rentner mit begrenztem Budget kaum erschwinglich. Die Schmidts zahlten für ihre 75 Quadratmeter große Altbauwohnung zuletzt 680 Euro warm – ein Preis, der heute in vergleichbarer Lage undenkbar wäre.
Nach monatelanger Suche haben die Schmidts schließlich eine kleinere Wohnung in einem Vorort gefunden. «Es ist nicht dasselbe, aber wir müssen nach vorne schauen», sagt Herbert Schmidt gefasst. «Am schwersten wiegt der Verlust unserer Nachbarschaft. Unsere beste Freundin wohnt im Nachbarhaus, wir haben uns täglich gesehen.»
Der Fall der Schmidts steht beispielhaft für ein größeres Problem in deutschen Großstädten. Laut Mieterverein Hamburg haben Eigenbedarfskündigungen in den letzten fünf Jahren um fast 40 Prozent zugenommen. Besonders ältere Mieter mit langlaufenden günstigen Mietverträgen sind betroffen.
«Es ist eine Entwicklung, die uns große Sorgen bereitet», erklärt Siegmund Chychla vom Mieterverein Hamburg. «Eigenbedarfskündigungen werden zunehmend als Instrument genutzt, um langjährige Mietverhältnisse zu beenden und anschließend teurer neu zu vermieten. Nicht immer ist der angemeldete Eigenbedarf tatsächlich gegeben.»
Der Senat der Hansestadt hat das Problem erkannt und plant Maßnahmen zum besseren Schutz langjähriger Mieter. Eine Senatsinitiative sieht vor, die Kündigungssperrfrist bei Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen von fünf auf zehn Jahre zu verlängern. Allerdings würde diese Regelung Fälle wie den der Schmidts nicht erfassen.
Trotz der schwierigen Situation versuchen die Schmidts, positiv zu bleiben. «Wir machen jetzt einen Neuanfang, das ist auch eine Chance», meint Gisela Schmidt. «Aber künftigen Generationen wünsche ich mehr Sicherheit in ihren Mietverhältnissen. Ein Zuhause ist mehr als nur vier Wände.»
Dieser Fall verdeutlicht die Spannungen auf dem Hamburger Wohnungsmarkt. Während Vermieter ihr Recht auf Eigentum geltend machen können, stehen langjährige Mieter vor existenziellen Herausforderungen. Experten fordern eine Überarbeitung des Mietrechts, das die Interessen beider Seiten besser ausbalanciert und dabei die besonderen Härten für ältere Menschen berücksichtigt.
Die letzten Kisten sind gepackt. Ein letzter Blick durch die leeren Räume. «44 Jahre passen nicht in Umzugskartons«, sagt Herbert Schmidt leise. Doch die Erinnerungen nehmen sie mit.