An einem regnerischen Dienstagnachmittag betrete ich Rubina Beckers Wohnung im Berliner Stadtteil Neukölln. Die 35-jährige Sozialarbeiterin empfängt mich mit einem warmen Lächeln in ihrer gemütlichen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee liegt in der Luft, während Regentropfen sanft gegen die Fensterscheiben klopfen.
«Manchmal kann ich selbst kaum glauben, wie weit ich gekommen bin«, sagt Rubina, während sie zwei Tassen auf den kleinen Holztisch stellt. An den Wänden hängen bunte Fotografien aus verschiedenen Ländern – stille Zeugen einer Reise, die weit über geografische Grenzen hinausgeht.
Vor zehn Jahren sah Rubinas Leben noch völlig anders aus. In einer konservativen Familie in Berlin-Wedding aufgewachsen, waren ihre Freiheiten stark eingeschränkt. «Meine Eltern hatten sehr klare Vorstellungen davon, wie mein Leben verlaufen sollte», erklärt sie. «Studium, Heirat, Kinder – in genau dieser Reihenfolge und ohne Umwege.»
Mit 22 Jahren sollte Rubina nach dem Willen ihrer Familie einen Cousin heiraten. «Das war der Wendepunkt. Ich wusste, wenn ich jetzt nicht handle, werde ich nie die Chance haben, mein eigenes Leben zu führen.» Mitten in der Nacht packte sie das Nötigste in einen Rucksack und verließ ihr Elternhaus – mit nur 80 Euro in der Tasche und ohne konkreten Plan.
Die ersten Wochen verbrachte sie bei einer Freundin, später in einer Notunterkunft für Frauen. «Diese Zeit war unglaublich schwer, aber auch befreiend», erinnert sich Rubina. «Zum ersten Mal konnte ich selbst entscheiden, wann ich aufstehe, was ich anziehe, wen ich treffe.»
Mit Unterstützung einer Beratungsstelle für junge Frauen fand Rubina schließlich eine kleine Wohnung und einen Job als Verkäuferin. Nebenbei holte sie ihr Abitur nach und begann ein Studium der Sozialen Arbeit. «Bildung war für mich immer der Schlüssel zur Freiheit«, betont sie und streicht dabei über den Einband ihres Abschlusszeugnisses, das gerahmt an der Wand hängt.
Heute arbeitet Rubina in einer Beratungsstelle für junge Menschen mit Migrationshintergrund. «Ich kann ihre Situation verstehen, weil ich selbst dort war», sagt sie. «Viele fühlen sich zwischen den Kulturen und Erwartungen zerrissen. Ich zeige ihnen, dass es möglich ist, seinen eigenen Weg zu finden.»
Die Beziehung zu ihrer Familie ist kompliziert geblieben. Mit ihrer Mutter steht sie mittlerweile wieder in Kontakt, zum Vater und zu ihren älteren Brüdern besteht nur sporadischer Kontakt. «Sie haben mir zwar verziehen, dass ich gegangen bin, aber sie verstehen nicht wirklich, warum ich mich gegen ihre Vorstellungen entschieden habe.»
In Rubinas Wohnzimmer fällt besonders ein selbstgemaltes Bild auf: Eine Frau, die auf einem schmalen Weg zwischen zwei Welten wandert. «Das habe ich in einer Therapiesitzung gemalt», erklärt sie. «Es zeigt, dass Selbstbestimmung nicht bedeutet, seine Wurzeln komplett abzuschneiden, sondern einen Weg zu finden, der für einen selbst stimmig ist.«
An den Wochenenden gibt Rubina ehrenamtlich Deutschunterricht für geflüchtete Frauen. «Die Sprache ist so wichtig für die Integration und Selbstständigkeit», sagt sie. «Wenn du dich ausdrücken kannst, kannst du für dich selbst einstehen.»
In einer Ecke des Wohnzimmers steht ein vollgepackter Reiserucksack. In drei Tagen fliegt Rubina nach Thailand – ihre erste große Reise außerhalb Europas. «Früher war die Vorstellung, alleine zu reisen, undenkbar für mich. Jetzt kann ich es kaum erwarten.»
Als ich frage, was Selbstbestimmung für sie heute bedeutet, überlegt Rubina kurz. «Es geht nicht darum, alles tun zu können, was man will. Sondern darum, die Freiheit zu haben, eigene Entscheidungen zu treffen und für die Konsequenzen einzustehen. Diese Freiheit ist ein Privileg, für das ich jeden Tag dankbar bin.«
Der Regen hat inzwischen nachgelassen. Ein Sonnenstrahl fällt durch die Wolken und lässt die bunten Bilder an Rubinas Wänden aufleuchten. Bilder von einem Leben, das sie sich selbst erschaffen hat – Schritt für Schritt, Entscheidung für Entscheidung.
«Der Weg in die Selbstbestimmung war nicht leicht«, sagt Rubina zum Abschied. «Aber es war der richtige Weg für mich.» Ihr Lächeln spricht Bände über den Mut, den es braucht, um frei zu sein, und über die Kraft, die darin liegt, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.