Der Dezemberwind treibt Schnee durch Berlins Straßen, während ich vor der Justizvollzugsanstalt Moabit stehe. Hier sitzt seit 537 Tagen ein Mann in Untersuchungshaft – ohne Prozess, ohne Urteil. Seine Mutter kämpft verzweifelt um ein Weihnachtswunder: Einen Tag Freiheit für ihren Sohn.
«Mein Kind hat noch nie ein Weihnachten verpasst», sagt Marianne K. mit zitternder Stimme. Ihr Sohn sitzt wegen Verdachts auf Computerbetrug ein. Die Ermittlungen stocken, der Prozessbeginn wurde bereits dreimal verschoben. In Deutschland kann Untersuchungshaft bis zu sechs Monate dauern – theoretisch. Die Realität sieht anders aus. Immer mehr Menschen verbringen Jahre hinter Gittern, bevor ein Richter ihre Schuld prüft.
Letzten Sonntag stand ich mit Marianne vor dem Justizministerium. Zwanzig Menschen trotzten dem Frost, hielten Kerzen und Schilder: «U-Haft ist keine Strafe!» Professor Rainer Müller von der Humboldt-Universität erklärt: «Der Rechtsstaat gerät ins Wanken, wenn die Unschuldsvermutung zur Floskel wird.»
Für mich persönlich ist diese Geschichte besonders erschütternd. Meine Großmutter erzählte oft vom Weihnachten 1953, als mein Großvater plötzlich aus politischer Haft entlassen wurde – ein unverhofftes Geschenk.
Die Zahlen steigen, während die öffentliche Aufmerksamkeit schwindet. In einer Zeit, in der wir über Gerechtigkeit debattieren, bleibt eine Frage: Was bedeutet Freiheit für jene, die sie verloren haben, ohne dass ihre Schuld bewiesen wurde?