Die Zahlen sind alarmierend: Fast 2000 Kinder in Hamburg waren im vergangenen Jahr von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch betroffen. Das Jugendamt der Stadt musste in 1947 Fällen eingreifen, um das Wohl der Kinder zu schützen. Diese besorgniserregende Entwicklung zeigt, dass trotz aller Präventionsmaßnahmen noch immer zu viele Kinder in unserer Stadt leiden.
Besonders betroffen waren Kinder unter sechs Jahren. Sie machten etwa 40 Prozent aller gemeldeten Fälle aus. «Die frühen Lebensjahre sind besonders kritisch», erklärt Sozialpädagogin Martina Weber vom Hamburger Kinderschutzzentrum. «Kleine Kinder können sich nicht selbst helfen und sind vollständig auf ihre Bezugspersonen angewiesen.»
Die häufigste Form der Kindeswohlgefährdung war Vernachlässigung. In mehr als der Hälfte der Fälle erhielten Kinder nicht die notwendige Versorgung, Betreuung oder emotionale Zuwendung. Oft spielten dabei Überforderung der Eltern, finanzielle Probleme oder psychische Erkrankungen eine Rolle.
«Wir sehen eine deutliche Zunahme von Fällen in bestimmten Stadtteilen», berichtet Thomas Müller von der Hamburger Sozialbehörde. In Wilhelmsburg, Billstedt und Teilen von Harburg wurden überdurchschnittlich viele Gefährdungsmeldungen registriert. Die Behörde führt dies auf soziale Belastungsfaktoren wie Armut, beengte Wohnverhältnisse und mangelnde Unterstützungssysteme zurück.
Die Corona-Pandemie hat die Situation vieler Familien weiter verschärft. «Während der Lockdowns fehlten wichtige soziale Kontrollinstanzen wie Schulen, Kitas oder Sportvereine», erklärt Müller. «Probleme in Familien blieben länger unentdeckt.»
Eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung von Kindeswohlgefährdungen spielen aufmerksame Nachbarn, Verwandte und Fachkräfte. In etwa einem Drittel der Fälle kamen die Hinweise von Lehrkräften oder Erziehern, die Verhaltensänderungen oder Verletzungen bei den Kindern bemerkten. «Jeder kann und sollte hinschauen«, betont Kinderschutzexpertin Weber. «Oft sind es kleine Anzeichen, die zusammen ein Bild ergeben.»
Das Jugendamt Hamburg hat auf die hohen Fallzahlen reagiert und seine Präventionsarbeit verstärkt. In allen sieben Bezirken wurden zusätzliche Fachkräfte eingestellt. Zudem wurden die Frühen Hilfen ausgebaut, die Familien bereits während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren der Kinder unterstützen.
«Wir müssen früher ansetzen», fordert Sozialsenatorin Melanie Leonhard. «Familien brauchen niedrigschwellige Angebote, bevor es zu einer Krise kommt.» Die Stadt hat deshalb ihr Netzwerk aus Familienhebammen, Elterncafés und Beratungsstellen erweitert.
Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Experten schätzen, dass auf jeden gemeldeten Fall zwei bis drei unentdeckte Fälle kommen. «Viele Kinder leiden still», sagt Weber. «Sie schämen sich oder haben Angst, ihre Familie zu verraten.»
Besonders beunruhigend ist der Anstieg von Fällen sexueller Gewalt. 187 Kinder wurden Opfer sexuellen Missbrauchs – ein Anstieg von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Täter kommen meist aus dem nahen Umfeld der Kinder.
Für betroffene Kinder gibt es verschiedene Hilfsangebote. Das Kinder- und Jugendnottelefon ist rund um die Uhr erreichbar. Auch die «Nummer gegen Kummer» bietet anonyme Beratung. In besonders schwerwiegenden Fällen werden Kinder aus den Familien genommen und in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht. Im vergangenen Jahr war dies bei 312 Hamburger Kindern notwendig.
«Jeder Fall ist einer zu viel», betont Senatorin Leonhard. «Wir müssen als Gesellschaft wachsam bleiben und Verantwortung übernehmen.» Die Stadt plant, ihre Anstrengungen weiter zu verstärken. Ein neues Konzept sieht vor, Fachkräfte in Kitas und Schulen besser zu schulen, damit sie Anzeichen von Misshandlung früher erkennen können.
Auch digitale Gefahren rücken zunehmend in den Fokus. «Wir beobachten eine Zunahme von Cybergrooming und sexueller Belästigung im Internet», berichtet Polizeihauptkommissar Jan Fiedler von der Hamburger Polizei. Ein spezielles Präventionsprogramm soll Kinder und Jugendliche für diese Gefahren sensibilisieren.
Für Hamburger Bürger, die den Verdacht haben, dass ein Kind gefährdet sein könnte, gibt es klare Handlungsempfehlungen: «Wenden Sie sich an das zuständige Jugendamt oder rufen Sie im Notfall die Polizei«, rät Müller. «Lieber einmal zu viel Hilfe holen als einmal zu wenig.»
Die aktuellen Zahlen zeigen: Kinderschutz bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nur durch Wachsamkeit, Prävention und schnelles Eingreifen können wir die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft wirksam schützen.